Blutbuch
«Liebe Blutbuche, wie wird mensch so gross und stark wie du?» Das fragte das Kind Kim, die grosse Blutbuche im Garten seiner Grossmutter.
«Ach Kim, wie werde ich so gross und stark wie du?» Das mögen sich Lesende fragen, wenn sie in dieses Buch eintauchen. Wenn sie sich dieser unglaublich virtuos verästelten, hochsensiblen, aber eben auch blutigen und schonungslosen Gefühlswelt der Erzählstimme Kims wirklich stellen, sich darauf einlassen. Denn nur dann kommt mensch an in dieser Welt von Kim und dessen «Grossmeer», die so heimatlich wie monströs anmuten. Diesen Weg mitzugehen kostet etwas, mensch muss Schalen abwerfen, Gewissheiten ziehen lassen, muss bereit sein, sich ein paar Wahrheiten zertrümmern zu lassen. Wahrheiten, die unsere Welt übersichtlich, binär, strukturiert machen. Und ja, mensch begreift natürlich: non-binär ist weiter, freier, komplexer, schwieriger, schmerzhafter – und wahrer.
Die gleiche Frage mag sich auch die junge Lucia Kotikova in der Begegnung mit diesem Text gestellt haben: «Wie werde ich so gross und stark wie du?» Wie trifft man als Performerin die Vielschichtigkeit, die diesen Text ausmacht, wie diese vielen, die Kim sind? Es gelingt ihr grandios und das liegt hauptsächlich daran, dass alles, was sie tut, unfertig, skizzenhaft, aufgerissen ist. Und doch immer intensiv und ganz dem Moment verpflichtet. Lucia Kotikova stellt sich mit ihrem Körper einem Textkörper zur Verfügung, sagt «ich» und «Grossmeer», wird traurig, zart, böse, leidenschaftlich, und bleibt doch immer Performerin, Darstellerin von etwas, das sich entziehen will, das Unabgeschlossen bleibt und bleiben soll.
Die Inszenierung von Sebastian Schug gewährt ihrer Protagonistin sowie dem Text von Kim de l’Horizon grosse Freiheit. Keine Vorstellung ist wie die andere, denn die Spielerin entscheidet, welche Stellen sie für ein bestimmtes Publikum vorträgt, alles geht ja sowie so nicht. Sie kommuniziert durchgehend mit den Zuschauenden, bespricht, was sie als nächstes tun wird, und lässt sich dann ganz aufsaugen und anfressen von der radikalen und doch humorvollen Welt von Kim.
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